Kirchenrecht (kanonisches Recht)

Die Kirchenrechtswissenschaft fragt nach dem theologischen Ort des Rechts in der „Kirche der Liebe“. Die Kirche ist nach eigenem Selbstverständnis "eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst“ (vgl. LG 8,1). Sie ist „in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.“  Das kanonische Recht dient der Kirche und ermöglicht ihr, ihrem Wesen gemäß zu handeln.

Die Kanonistik erforscht das geltende Recht der Kirche. Sie erfasst das kirchliche Recht als ein vielschichtiges System. Neben dem Recht der lateinischen Westkirche stehen gleichberechtigt die Rechtsordnungen der katholischen orientalischen ‚Kirchen eigenen Rechts’. Unterhalb des universal geltenden Rechts besteht eine Vielzahl von partikular geltenden Rechtsnormen. Anfragen an die Botschaft und Glaubwürdigkeit Kirche sind immer auch Herausforderungen für das Recht als Lebensordnung. Die Geltung der Menschenrechte in der Kirche, ein effektiver Rechtsschutz und ein grundrechtssensibler und dennoch schonungsloser Umgang mit allen Formen des Machtmissbrauchs sind dafür drei aktuelle Beispiele.

Ausgehend davon, dass das Gegenteil von Gerechtigkeit nicht automatisch Barmherzigkeit, sondern zu oft Willkür ist, soll das kirchliche Recht die freie Entfaltung des Glaubens der einzelnen Getauften und ihrer Gemeinschaften ermöglichen. Wie jede Rechtsordnung sichert das Kirchenrecht die Freiheit der Einzelnen wie auch das gemeinsame Wohl aller. Auch das kirchliche Recht ist wie jede Rechtsordnung eine verbindliche Richtschnur (vgl. das Wort ,Canon’) des Zusammenlebens und bindet vor allen anderen jene, die amtliche Verantwortung tragen.

Das Heil der Seelen, das das oberste Ziel jeden Handelns in der Kirche bilden muss, verlangt über generell-abstrakte Normen hinaus auch einen behutsamen Umgang mit dem Einzelfall. Daher ist das kirchliche Recht mehr als staatliche Ordnungen offen für situationsangepasste Anwendungen, die sich freilich an verbindlichen Grundsätzen orientieren. Dadurch darf aber kein Einfallstor für ungerechte Entscheidungen entstehen.

 

Die Kanonistik als Wissenschaft des kirchlichen Rechts bildet innerhalb des theologischen Fächerkanons eine spezifische Wissenschaft, da sie sich neben den Methoden theologischer Erkenntnis primär der juristischen Methoden bedient. Wie jede Rechtswissenschaft ist sie insofern ,dogmatisch’, als sie das geltende Recht erforscht und in der Lehre darlegt. Da kirchliches Recht sich aber nicht nur auf das gesatzte, positive Gesetz beschränken lässt, erarbeitet sie vor dem Hintergrund des kirchlichen Glaubens angesichts der jeweils aktuellen Herausforderungen kritische Vorschläge ,de lege ferenda’, die über bloße Rechtspolitik hinausgehen.